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Willy Brandt und Günter Guillaume bei einem Parteitag in Düsseldorf. Foto: Pelz, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Vor 50 Jahren im Var enttarnt: Der Spion, der Willy Brandt stürzte

Vor 50 Jahren wurde in Sainte-Maxime im Departement Var die letzte Seite des spektakulärsten Spionage-Thrillers in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgeschlagen, der wenig später im Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt (1913-1992) gipfelte.

Einer Hundertschaft von verdeckten deutschen Polizisten gelang es mit Unterstützung der französischen Behörden, den DDR-Spitzel Günter Guillaume (1927-1995) bei seinem für alle Zeiten letzten konspirativen Treffen an der Côte d’Azur zu enttarnen. Dabei zeigten die Verfolger starke Nerven. Statt Guillaume gleich an Ort und Stelle dingfest zu machen, hefteten sie sich bei seiner Rückreise nur an seine Fersen, um den ahnungslosen Verräter erst nach seinem Wiedereintreffen in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn endgültig zu verhaften.

Was 1974 genau passierte, schildert unser Chefreporter Rolf Liffers.

Kein Mensch hätte gedacht, dass das verschlafene Sainte-Maxime (bei Saint-Tropez) Knotenpunkt sozialistischer Spionage sein könnte. Aber das war genau das Kalkül der Schnüffler, die sich unter den Touristen als am unauffälligsten und sichersten fühlten. Verdachte gegen Guillaume hatte es vor dem großen Coup schon zuhauf gegeben. Aber die hatten die damaligen Entscheider nicht recht ernst genommen, pflegten doch die Ehepaare Brandt und Guillaume und etliche Spitzenpolitiker in ihrem Umfeld enge freundschaftliche Kontakte.

Erstmals gelang es auf diese Weise dem Osten, einen seiner Agenten im Zentrum der westdeutschen Staatsmacht, direkt neben dem Regierungschef, zu etablieren. Und das als persönlichen Referenten des Kanzlers für Parteiangelegenheiten. Vier Jahre war Guillaume – Hauptmann der Nationalen Volksarmee der DDR und Mitarbeiter des Ost-Berliner Ministeriums für Staatssicherheit (MfS = „Stasi“) – der Mann, der nach Erkenntnissen der westdeutschen Verfassungsschützer „alles wusste“. Er war seit 1970 darauf angesetzt, die größte Regierungspartei und ihren Vorsitzenden Brandt sowie die Regierungszentrale im Bundeskanzleramt auszuforschen.

Liffers, Brandt
Willy Brandt und unser Reporter Rolf Liffers in den siebziger Jahren beim Interview. Foto: privat

Bei drei Sicherheitsüberprüfungen von Bundesbehörden war dem SED-Genossen der unbedenkliche Zugang zur Stufe „streng geheim“ zuerkannt worden. Damit hatte er Zugang zu praktisch allen Bonner Staatsgeheimnissen, die er zuverlässig an die Hauptabteilung Aufklärung des MfS weiterleitete. Er hörte alles – vieles früher als die Mehrzahl der Bonner Minister und Parteispitzen – er sah alles, war überall dabei. Mehr noch: „Ein NVA-Offizier bringt Brandt zu Bett und öffnet ihm die Post“, wie sich im April 1974 nach dem Zugriff durch den Verfassungsschutz in seiner Godesberger Privatwohnung schnell herausstellte.

Erst Anfang des Monates war die Beweiskette gegen Guillaume so schlüssig gewesen, dass man beschloss, den Verdächtigen unauffällig auf dessen Osterferienreise nach Südfrankreich zu verfolgen, zumal die überlaufene Côte d’Azur den westdeutschen Abwehrleuten als bevorzugter Agententreffpunkt bekannt und die Hoffnung groß war, dort auch Guillaumes Verbindungsleute identifizieren zu können.

Les Tourelles
Jahrelang trafen sich in "Les Tourelles" in Saint-Maxime die DDR-Spione zum Informationsaustausch. Willy Brandt und Georg Leber wähnten sich auf der "deutschen Insel" der IG Bau, Sterne, Erden an der Côte d’Azur in Sicherheit, bis vor 50 Jahren die Bombe platzte. Foto: Txllxt TxllxT, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons

Am Mittwoch vor Ostern fuhr der 47-jährige Guillaume also in seinem silbergrauen Opel Kadett von Bonn aus Richtung Süden, nicht ahnend, dass 100 Staatsschützer zuvor ein lückenloses Beobachtungsnetz über den Straßen der Côte d’Azur geknüpft hatten. Erwartungsgemäß legte sich der Spitzenagent nicht etwa in Badehosen an den Sandstrand, sondern traf sich mit einem Ostberliner Kontaktmann. Über die Ostertage mietete er sich – wie immer seit 1967 – in dem Ferienzentrum „Résidence de France“ in Sainte-Maxime ein, das nur einen Katzensprung weit vom Feriendorf „Les Tourelles“ der bundesdeutschen Industriegewerkschaft Bau, Steine, Erden entfernt liegt.

Am Dienstag nach Ostern verabschiedete sich der erstmals ohne Familie Angereiste bei Tourelles-Patronin Kübler, die Guillaume von gemeinsamen Besuchen mit Feriendorfgründer Georg Leber und Willy Brandt gut kannte und ihm das Ferienquartier vermittelt hatte. Nonstop fuhr er zurück nach Bonn, wo ihn und seine Frau Christel neun Beamte der Sicherungsgruppe in aller Herrgottsfrühe einkassierten, bevor er an seinen Horchposten im Palais Schaumburg zurückkehren konnte, wo er lange Zimmernachbar von Brandts Redenschreiber Klaus Harpprecht war, der später bis zu seinem Tod in La Croix-Valmer (ebenfalls bei Saint-Tropez) lebte.

Übrigens: Leber, damals einer der einflussreichsten Bonner Minister, stand bei Guillaume in der Schuld, weil der dessen Bundestagswahlkampf 1969 bravourös organisiert hatte. Von Willy Brandt wusste man, dass die beiden Guillaumes beim Kanzler und seiner Frau Rut praktisch zur Familie gehörten. Noch im November 1973 hatte der Kanzler seinen Lieblingsgehilfen zu einem Kurzurlaub mit an die Côte d’Azur genommen, wo der Spitzel sonst seine V-Leute zu treffen pflegte.

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