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Fahndungsplakat des Polizeipräsidiums München

Wirecard-Betrüger und Russlandspion frönte an der Côte d’Azur dem süßen Leben

„Nizza im Hochsommer, das Mittelmeer plätschert träge gegen die Kaimauern des Jachthafens. Ein Mann mit kurz geschorenen dunklen Haaren, schwarzem Anzug und blütenweißem Hemd hält strammen Schrittes auf einen Kutter zu. Ein zweiter Mann trägt ihm den Koffer. Auf dem Achterdeck der Poseidon III läuft nervös lachend eine attraktive Frau auf und ab: groß, blond, im Wind flatterndes Sommerkleid. Ihr Name ist Natalja Slobina, sie ist die russische Geliebte von Jan Marsalek, einem der inzwischen meistgesuchten Männer Europas.“ So schmonzettig wie diese Woche liest sich ein Reportage-Reißer selten. Das Idyll währt denn auch nicht lange in der aufsehenerregenden Enthüllungsgeschichte des exilrussischen Investigativmagazins «The Insider», des «Spiegels», des ZDF und der österreichischen Tageszeitung «Standard».

RivieraZeit-Leser erinnern sich: Als das Finanzunternehmen Wirecard 2020 kollabierte, tauchte Spitzenmanager Marsalek unter. Recherchen ergaben nun, dass er in Russland eine neue Identität angenommen hat. Brisant ist aber vor allem der Befund, dass der Manager mit großer Wahrscheinlichkeit schon Jahre vor seiner Flucht für den russischen Geheimdienst arbeitete – und zwar bis heute. Damit wird die Betrugsaffäre um Wirecard, einst ein Star unter den dreißig größten Firmen Deutschlands, endgültig zu einem Spionageskandal.

Weiter im Text von oben: „Die Szene, aufgenommen von einer Kamera im Jachthafen, verschwimmt etwas. Der Mann im schwarzen Anzug steigt eine Leiter zur »Poseidon III« hinunter, begrüßt die Blondine, ein Küsschen, sie lacht, er schaut entnervt. Nun erkennt man sein Gesicht, heute bekannt von Fahndungsfotos, mit denen Bahnhofshallen und Flughäfen gepflastert sind.“ Es ist Jan Marsalek selbst, ehemals Vorstand des ehemaligen Dax-Konzerns Wirecard. Flüchtig seit Juni 2020.

Der Moment dauert kaum eine Minute, im Video ist zu sehen, wie die Frau schnell zu erkennen gibt: Alles nur ein Scherz mit dem Kutter. Das richtige Schiff für Marsalek liegt gleich nebenan, eine pompöse Luxusjacht natürlich, wo schon lachende Männer warten. Später wird Slobina hier ihren 30. Geburtstag feiern. Es ist der 6. Juli 2014. Der Tag, der Jan Marsaleks Leben verändern wird. Der Tag, an dem er einen Mann mit besten Kontakten zum russischen Militärgeheimdienst GRU kennenlernt und an dem wohl sein Zweitleben als Spion beginnt.

Marsaleks Geschichte war bislang ein Wirtschaftskrimi, auch das schon eine fast unglaubliche Story um Betrug und Lügen und Blendwerk: Ein Schulabbrecher steigt auf zum Vorstand des Finanzkonzerns Wirecard, der als größte Hoffnung der deutschen Wirtschaft seit Jahrzehnten gilt, umschmeichelt von Ministern und Regierungschefs. Doch der Erfolg von Wirecard erweist sich als Schwindel: Milliarden Euro Kontoguthaben lösen sich in Luft auf, fast 6000 Mitarbeiter verlieren ihren Job, Topmanager werden verhaftet.

Aber das Drama nimmt nun eine bizarre Wendung, die Handlung wird immer irrer. Es wechselt abrupt das Genre, aus dem Wirtschaftskrimi wird ein Agententhriller. Zugleich wandelt sich der Hauptdarsteller radikal: Aus dem charismatischen Trickser wird der Bösewicht einer James-Bond-Verfilmung, zynisch und gefährlich. Bis heute versteckt er sich vor der Justiz. Aber wo? Und wie hat er es geschafft, sich der Strafverfolgung zu entziehen

Eine gemeinsame Recherche liefert nun Antworten. Anhand vertraulicher Dokumente, Handy-, Reise- und Labordaten, Ermittlungsberichten, E-Mails und Chats lässt sich der Fall Marsalek erstmals als das erzählen, was er wirklich ist: eine Agentengeschichte. Marsalek ist nicht nur eine Hauptfigur in einem der größten deutschen Wirtschaftsskandale. Er ist, so zeigen es Gespräche mit Geheimdienstlern, Fahndern und Personen aus seinem Umfeld, ein Spion im Auftrag des Kreml. Ein Mann, dessen Agententätigkeit Menschenleben gefährdet: Marsalek beauftragte wohl bulgarische Helfer, Moskaus Kritiker quer durch Europa zu verfolgen, sie auszuspähen und womöglich sogar aus dem Weg zu räumen. Das Komplott wurde gerade noch rechtzeitig vom britischen Inlandsgeheimdienst MI5 aufgedeckt…

azurblau-Tipp: Lesen Sie weiter im Spiegel.

Wer den Spuren von Jan Marsalek folgt, taucht ein in eine schrille Parallelwelt, die mal wie ein schlecht ausgeleuchtetes B-Movie wirkt, mal wie ein greller Horrorfilm. Dabei werden MiG-Kampfjets geflogen und Panzerfäuste in Syrien abgefeuert, Champagnerpartys an der Côte d’Azur gefeiert und Söldnerarmeen in Libyen aufgebaut. Es treten auf: Agenten, Nacktmodelle, Söldner, Politiker, Psychopathen und Mörder. Und ein russischer Priester, der erstaunliche Ähnlichkeit mit Jan Marsalek hat. Und es kommt noch dicker: Bald geht es zu wie in einem tödlichen Agententhriller von John le Carré.

Marsalek, geboren am 15. März 1980 in Wien, wächst wenige Kilometer weiter in Klosterneuburg auf. Er besucht eine französische Privatschule, dann das örtliche Gymnasium. Ein guter Schüler, begabt. »Eloquent«, mit »sehr großem Talent in Informatik«, erzählen ehemalige Lehrer.

»Charisma«, antworten fast alle ehemaligen Wirecard-Mitarbeiter auf die Frage nach seinem Erfolgsrezept. Schon als 20-Jähriger strahlt Marsalek Selbstbewusstsein und Intelligenz aus. »Man sieht ihn sofort als erfolgreichen Menschen, der weiß, worüber er spricht und was er tut«, sagt Pav Gill, ehemals Chefjurist von Wirecard in Asien. »Ein Verkaufsgenie, ein Menschenfänger«, so eine frühere Vertraute. »Eloquent, charmant und hochintelligent«, so Jörn Leogrande, der ehemalige Wirecard-Innovationschef.

Marsaleks Lifestyle verstärkt den Eindruck: Partys in Saint-Tropez, Abendessen im Münchner Mandarin Oriental für 15.000 Euro, Champagner und Cognac Rémy Martin Louis XIII. für 2500 Euro die Flasche fließen in Strömen.

Ein paar Monate später, im Sommer 2014, an jenem heißen Juliabend im Jachthafen von Nizza, wird es Zeit für den nächsten, entscheidenden Schritt. Zu Slobinas Geburtstagsparty kommt ein besonderer Gast. Sie stellt ihn Marsalek als »Stas« vor, der ein »General« sei, wie sich andere Partygäste erinnern – „eine ebenso illustre wie verschwommene Gestalt aus der Schattenwelt des russischen Sicherheitsapparats“. Drei Jahre später trifft Marsalek den Wagner-Geheimdienstchef Karasi in München…

R.L.

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