Das Departement Var begeht im Augenblick gehäuft historische Jahrestage: den 80. der Zerstörung von Toulon durch die Amerikaner (1943), den 130. des folgenreichen russischen Flottenbesuchs in Toulon (1893) sowie den 230. Jahrestag der Befreiung Toulons von den Engländern (1793), ohne die der kleine Hauptmann Napoleon Bonaparte (1769-1821) vielleicht nie Karriere gemacht hätte. Für Azurblau in die Geschichtsbücher geblickt hat Rolf Liffers.
1943: Toulon "nur noch ein Trümmerfeld"
Im November 1943 fallen die Schatten eines US-amerikanischen Bombergeschwaders auf die große Stadt. Ein Jahr nach der von Pétains Admiralität angeordneten Selbstversenkung (sabordage) der Mittelmeerflotte von Vichy im dortigen Kriegshafen legen Flugzeuge der Alliierten das strategisch wichtige Zentrum mit 1.140 Granaten und einer Sprengkraft von insgesamt 285 Tonnen binnen weniger Minuten in Schutt und Asche. Danach ist Toulon zu 47 Prozent zerstört. Augenzeugen berichten, von der Regional-Metropole sei nach ihrem ersten Eindruck von damals „nur ein Trümmerfeld“ übrig gewesen. Das gilt auch für die gesamte Front der mittelalterlichen Uferpromenade (Quai Stalingrad).
Weitaus schlimmer ist jedoch der „Kollateralschaden“: 450 Zivilisten kommen bei dem Blutbad zu Tode. Die Zahl der Verletzten wird mit 600 angegeben.
Ziel der Attacke war, die Nester der deutschen Wehrmacht auszuheben, die inzwischen ganz Frankreich besetzt hielt. Nach der US-Offensive gegen den gemeinsamen Feind verfestigen sich jedoch die Ressentiments der Toulonnais gegen Amerika auf Jahre. Der Vorwurf: An jenem Novembertag wehte ein extrem starker Nordwest-Sturm, und das Einsatzkommando der 15. US Army Air Force muss sich klar darüber gewesen sein, dass der Wind die Zielgenauigkeit der Bomben erheblich einschränken würde. Hinzu kam, dass die Bomben aus Angst vor der deutschen NS-Artillerie aus 5000 Metern, also sehr großer Höhe, ausgeklinkt werden mussten. Was dazu führte, dass „versehentlich“ auch Nachbargemeinden wie Mourillon, Besagne, Pont-du-Las und so weiter in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Nach dem Angriff war Toulon die mit Abstand am stärksten zerstörte Stadt im Midi, eine der am stärksten betroffenen in ganz Frankreich. In der Nachbarschaft der Bouches-de-Rhône erwischte es nur Marseille noch ärger. Dort kamen allein am 27. Mai 1944 bei bitteren Gefechten rund um den Bahnhof Saint-Charles 2000 Menschen um.
Heute kaum noch vorstellbar: Toulon bejubelt die russische Flotte
Heute, wo Putins Kanonen in Europa donnern, ist es fast unvorstellbar, dass Toulon vor 130 Jahren unter großem Jubel die russische Flotte in ihrem Hafenbecken mit Salutschüssen begrüßte und bejubelte. Am laufenden Band gab es Blumenumzüge, Bälle, Gelage und andere Lustbarkeiten zu Ehren der Marine des befreundeten Zarenreichs. Hintergrund der Partylaune unter den seit dem verlorenen Krieg von 1870/71 diplomatisch isolierten Franzosen war die sich anbahnende franko-russische Militärallianz, die die Tri-Entente aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien abschrecken sollte.
Die Ratifizierung der Militärkonvention trat dann als förmlicher Bündnisvertrag am 4. Januar 1894 in Kraft. Der neue russische Zar Nikolai II. besuchte daraufhin 1896 Paris, der französische Präsident Félix Faure 1897 Sankt Petersburg.
Mit der ostentativen Verbrüderung entstand die von Bismarck stets befürchtete Zweifrontenlage des Deutschen Reichs. Damit waren die Grundlagen der Machtblöcke in der 1914 entbrennenden „Grande Guerre“ (Erster Weltkrieg) gelegt.
Reliquien aus jenen Tagen sind im Musée des Amis du Vieux Toulon (Société des Amis du Vieux Toulon) zu sehen.
Im Kino: Napoleons märchenhafter Aufstieg nach der siegreichen Belagerung von Toulon
Unvermeidlich in diesem Jahr auch wieder das Gedenken an Napoleon Bonaparte. Auslöser ist hier diesmal aber weniger der 230. Jahrestag seines Belagerungssieges über die Engländer (18. September bis 18. Dezember 1793), die damals Toulon besetzt hielten. Aktueller Auslöser ist vielmehr das amerikanisch-britische Historiendrama „Napoleon“ von Ridley Scott („Thelma und Louise“/“Gladiator“/“Robin Hood“), das erst am 22. November in den USA und England in die Kinos kam und bereits in dieser ersten Woche in Frankreich auf Platz 1 der Kinocharts gelandet ist.
„Zufällig sahen wir in einem Ankündigungstrailer, dass der Film mit der siegreichen Belagerung Toulons begann, die vom 18. September bis zum 18. Dezember andauerte – und da schoss uns durch den Kopf: Das ist ja die die ideale Gelegenheit, dieses für den damals noch jungen Offizier Napoleon schicksalhafte Kapitel neu aufzuschlagen“, freut sich die neue Verwaltungschefin des Musée Nationale de la Marine in Toulon, Elsa Lewuillon. „Und wer ist dazu berufener als wir, die wir dem Empereur als einziges historisches Museum überhaupt einen ganzen Saal gewidmet haben.“
Toulon hatte sich vor der Belagerung (französisch „Siège“) von der Herrschaft der Jakobiner abgewandt und die Stadt mit ihrem wichtigen Kriegshafen den Alliierten unter Führung der Briten übergeben. Die wiederum erwogen, von dort aus die Gegenrevolution zu unterstützen. Die Rückeroberung durch die französischen Regierungstruppen gelang nach mehreren vergeblichen Versuchen jedoch erst dank der genialen Strategie des damals noch untergeordneten Bonaparte, wonach die Sieger in einem gnadenlos-blutigen Strafgericht die Köpfe rollen ließen. Napoleon wurde Knall auf Fall vom Hauptmann zum Brigadegeneral befördert.
Wie sich in diesen Tagen wieder zeigt, stößt das Thema Bonaparte noch immer auf großes öffentliches Interesse. Viele Franzosen sind eben nach wie vor relativ kritiklos fasziniert von dem machtbesessenen Feldherrn, der Europa jahrelang in Blut und Tränen erstickte und heute nicht zu Unrecht verschiedentlich mit Adolf Hitler verglichen wird.
Für die Region etwas enttäuschend mag sein, dass Filmregisseur Scott, der mit seiner Familie seit 1992 ganz in der Nähe von Toulon (in Oppède/Luberon) wohnt, die Belagerungsszenen nicht an den durchaus noch vorhandenen Originalschauplätzen drehte, sondern auf Malta, vor der Kulisse von Fort Ricasoli in Kalkara. Nachvollziehbar ist indessen, dass die in Paris spielenden Szenen an der Kathedrale von Lincoln aufgenommen wurden, weil die völlig eingerüstete Notre Dame seit dem Großbrand von 2019 als historisches Szenenbild ausfiel.
Besonderes Augenmerk richtet der Regisseur (in der Titelrolle der oscargekrönte Joaquin Phoenix) auf Napoleons unbeständige Beziehung zu Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby). Zusammen mit Drehbuchautor David Scarpa hatte Scott zuvor Bonapartes Liebesbriefe gelesen und als „manchmal fast kindlich in ihrer Sentimentalität und Sexualität“ empfunden. „Er schrieb wie ein Schuljunge an seine erste Freundin.“
Die US-amerikanisch-britische Koproduktion, die teilweise mehrere hundert Komparsen gleichzeitig auf die Leinwand bringt, soll nach unterschiedlichen Angaben zwischen 130 und 200 Millionen US-Dollar verschlungen haben. Am 14. November wurde der Film uraufgeführt. Demnächst ist eine Ausstrahlung auch durch den Streamingdienst Apple TV+ vorgesehen.
Übrigens...
Bonapartes Hand in der Weste ist keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal für den Despoten, sondern eine Geste, mit der sich – insbesondere auf Gemälden – etliche mehr oder weniger bedeutende Persönlichkeiten des 18. und 19. Jahrhunderts in Szene setzten – Marx, Nietzsche, Adolf Kolping und George Washington zum Beispiel. Kaiser Napoleon I. jedoch hat die nach ihm benannte Geste regelrecht zum persönlichen Markenzeichen erhoben, um sich als besonnener wie kontrollierter und damit als entschlossener Herrscher zu stilisieren.