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Der Papst sprach auch in der Basilika „Notre-Dame de la Garde“, dem Wahrzeichen von Marseille. Foto: AS

Papst in Marseille: „Tragödien von Ertrinkenden nicht länger mitansehen“

Papst Franziskus hat am gestrigen Samstag in Marseille dazu aufgerufen, dem Schicksal der im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge nicht länger tatenlos zuzusehen.

„Wir sind alle Geschwister“, sagte er bei der als Privatbesuch deklarierten Stippvisite im Mutter-Teresa-Haus im Marseiller Stadtteil Saint Mauront. Statt aber als Geschwister zu leben, fordere die aktuelle Leitkultur geradezu dazu auf, sich „als Feinde oder als Fremde“ zu betrachten. Geschwisterlichkeit, fuhr der Papst fort, „geht hinaus über politische und religiöse Gedanken.“

Das Haus der Missionarinnen der Nächstenliebe versorgt pro Tag bis zu 250 Bedürftige mit „Essen und einem offenen Ohr“, erklärte Crosvita, eine der Schwestern. Einige davon seien obdachlos, kürzlich sei eine Gruppe von Menschen aus dem Sudan angekommen, die auf der Straße schlafe. „Andere haben zwar ein Bett, aber nichts zu essen, sie kommen schon am frühen Morgen zu uns“, so die Ordensfrau. „Jede Person, die zu uns kommt und die wir treffen, ist für uns Christus“, versicherte sie.

Einen ähnlichen Aufruf hatte Papst Franziskus am Samstag an Priester, Seminaristen, Ordensleute und Seelsorgende gerichtet. „Wer zu euch kommt, möge nicht auf Distanz und Urteile stoßen, sondern auf das Zeugnis einer demütigen Freude, die fruchtbarer ist als jede zur Schau gestellte Fähigkeit“, sagte er in der Basilika Notre-Dame de la Garde, dem Wahrzeichen von Marseille.

Am Vormittag hatte der Pontifex in der erzbischöflichen Residenz den Vize-Präsidenten der Europäischen Kommission, Margaritis Schinas, getroffen. Danach empfing er einige Vertreter von Organisationen, die sich um Seenotrettung und die Unterstützung von Migranten im Mittelmeerraum kümmern.

Papst fordert Öffnung aller Mittelmeerhäfen für Flüchtlinge

Knapp dreißig Stunden hat sich Franziskus in Marseille aufgehalten. Im Mittelpunkt der Themen stand – wie berichtet – die Migration. Schließlich rief der Pontifex, selbst Nachfahre italienischer Einwanderer nach Argentinien, Europa zu einer neuen Migrationspolitik auf. Namentlich die EU dürfe das Phänomen von Flucht und Migration nicht länger als Notsituation auffassen, sondern als „eine Gegebenheit unserer Zeit“, forderte er.

Deutlich drängte Franziskus zu einer Öffnung der Häfen für auf dem Mittelmeer aus Seenot gerettete Bootsflüchtlinge. Natürlich sei es für Staaten nicht einfach, mit Migration umzugehen. „Aber das Hauptkriterium kann nicht der Erhalt des eigenen Wohlstandes sein, sondern vielmehr die Wahrung der Menschenwürde.“

Verabschiedet wurde Franziskus vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und seiner Frau Brigitte. Der Staatschef hatte am Samstag auch an den zwei zentralen Auftritten von Franziskus in der Stadt teilgenommen – der Abschlusssitzung einer internationalen Mittelmeer-Konferenz und der großen Messfeier im Stadion.

Die Visite in Marseille war die 44. Auslandsreise des Papstes seit seiner Wahl 2013.

Nach dem Renaissance-Pontifex Clemens VII. im 16. Jahrhundert war es erst das zweite Mal in der Geschichte, dass ein Papst Marseille besuchte. Franziskus hatte zuletzt im August am katholischen Weltjugendtag in Lissabon/Portugal teilgenommen sowie Anfang September die Mongolei bereist.

Franziskus warnte mit Blick auf die Migration von Afrika übers Mittelmeer nach Europa vor Abschottung und Panikmache. Es müssten reguläre Einreisemöglichkeiten und eine ausgewogene Aufnahme der Migranten in Europa gewährleistet werden, verlangte er am zweiten Tag seines Marseille-Besuchs.

Bei der Migration handele es sich weder um eine Invasion noch um eine Notsituation, sondern um ein aktuelles Problem, das in europäischer Verantwortung und Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern gelöst werden müsse.

„Das Mare Nostrum schreit nach Gerechtigkeit“, rief der Papst. Denn an seinen Ufern herrschten „auf der einen Seite Überfluss, Konsum und Verschwendung, auf der anderen Seite hingegen Armut und Prekarität“, verdeutlichte er zum Abschluss eines Jugendtreffens mit Teilnehmern aus 29 Ländern des Mittelmeerraums „die Auswüchse des Individualismus“.

Die Zukunft liege nicht in der Abschottung. „Zu sagen ‚genug‘ bedeutet hingegen, die Augen zu verschließen; der Versuch, sich heute ‘selbst zu retten’, wird sich morgen in eine Tragödie verwandeln“, mahnte das Kirchenoberhaupt. „Künftige Generationen werden uns danken, wenn es uns gelungen ist, die Bedingungen für eine unvermeidliche Integration zu schaffen, während sie uns die Schuld geben werden, wenn wir lediglich eine sterile Assimilation betrieben haben.“ Integration sei mühsam, aber eine weitsichtige Vorbereitung auf die Zukunft, sagte Franziskus.

Knapp 60.000 Menschen strömten am Samstagnachmittag in das Stadion Vélodrome, wo der Papst am zweiten Tag seines Besuchs in Marseille eine Messe hielt. Dabei rief er dazu auf, sich für das Leben derer zu interessieren, an denen man täglich vorbeigehe. „Unsere Großstädte und viele europäische Länder wie Frankreich, in denen verschiedene Kulturen und Religionen zusammenleben, stellen in diesem Sinne eine große Herausforderung gegen den Egoismus und die Verschlossenheit dar, die Einsamkeit und Leid erzeugen.“

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