You are currently viewing Marquis de Sade: Isabelle Huppert liest in Antibes
Isabelle Huppert. © nicolas genin from Paris, France, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons

Marquis de Sade: Isabelle Huppert liest in Antibes

Wie immer scheut sie vor nichts zurück. Auch am morgigen Montag, 5. Dezember, wieder wagt die vielleicht furchtloseste Grenzgängerin des französischen Kinos und Theaters ein überaus delikates Experiment: Auf der Bühne vom Anthéa in Antibes liest Isabelle Huppert Texte des skandalumwitterten Marquis de Sade, schlüpft die 69-jährige Schauspielerin wechselweise in die Rolle der verruchten und verderbten Juliette beziehungsweise ihrer gutmenschlichen Schwester Justine – und zwar als Vorleserin von Texten, die der Essayist Raphael Enthoven für sie ausgewählt hat. Der Titel des Abends ist Programm: „Juliette et Justine, le vice et la vertu“ („Laster und Tugend“).

aus dem Programmheft

Juliette ist eine scham- und skrupellose Realistin und hat damit zeitlebens großen Erfolg. Justine indessen ist bis zur Selbstaufgabe empathische Idealistin, die dafür vom Schicksal aufs Schlimmste bestraft wird. Und? Was denkt die Huppert, glaubt sie an das Gute im Menschen? „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich selbst nicht, wem von beiden ich stärker zuneige“, bekennt sie unumwunden im Vorfeld des Rezitationsabends in Antibes. „Ich weiß also immer noch nicht, auf welcher Seite der beiden ich selber stehe. Eine kommt aus der Sache jedenfalls immer besser raus als die andere.“

Zwar habe die arme Justine fraglos nicht den einfachsten Weg gewählt. „Aber Juliette macht es einfach besser. Nicht, dass ich ihr voll und ganz zustimme – ganz im Gegenteil. Aber sie sieht die Dinge halt, wie sie sind.“ Diese Gratwanderung zwischen Drama und Komödie habe sie sehr gereizt. Drama und Komödie? „Ja, wenn man es genauer betrachtet, liegt in der Häufung des Unglücks der philosophischeren Justine irgendwie auch etwas Komisches.“

Was sie an de Sades Stoff auch noch überzeugt habe: „Das Thema ist universell genug, um bis heute aktuell zu sein” – die einzig auf ‘Genuss sofort’ gerichtete Suche nach dem irdischen Glück um jedem Preis im Unterschied zu einer selbstlosen Weltweisheit, die fortgesetztes Leid generiere. In dieser Gegenüberstellung von de Sade “gibt es eine Übertreibung, die ans Karikaturistische grenzt“, findet die Diva. Aber gerade dadurch würden Fragen aufgeworfen, „die uns näher zu uns selbst bringen“.

Nun ist der Text nicht neu für die weltberühmte und vielfach ausgezeichnete Pariser Actrice. Schon 2015 ist sie in Avignon mit de Sade aufgetreten. Die Inhalte seien ihr also durchaus vertraut. „Und obwohl ich den Text noch sehr gut vor Augen habe, werde ich das Gefühl nicht los, ihn in Antibes noch einmal neu zu entdecken.“ Ein Vorteil sei sicherlich, dass sie sich unter diesen Umständen im Vortrag freier fühlen werde, um eher den Mittelweg zu finden zwischen Lektüre und Inkarnation, „allein schon, weil ich nicht mehr so auf Manuskript starren muss“. Vielleicht könne sie so Sades Heldinnen, das weise ewige Opfer und ihre amoralisch-ausschweifende Schwester überzeugender zusammenbringen. In jedem Fall bleibe es schwierig, zwei so gegensätzliche Charaktere zu spielen und dabei zwei Erfahrungen zu machen: Eine physische und eine geistige.

So oder so: „Auf der Bühne zu stehen, ist für mich immer ein Drahtseilakt über einem Abgrund – ohne Netz und doppelten Boden.“

Übrigens: Das einstige Schloss de Mazan des Marquis de Sade (1740-1840) im provenzalischen Lacoste ist heute ein Luxushotel.

Rolf Liffers

Print Friendly, PDF & Email

Schreibe einen Kommentar