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Kulturelles Highlight an der Côte d'Azur: Die jährliche "Fête du livre" im Département Var.

Lesetipps! Special zur Buchmesse in Toulon

Azurblau-Chefreporter Rolf Liffers besucht für uns dieses Wochenende (17.-19. November) die “Fête du Livre” im Var. Mit sicherem Händchen pickt er wie gewohnt einige der spannendsten Gäste und lesenswertesten Werke heraus und stellt sie hier vor.

Frisch gebackener Prix-Goncourt aus Cannes Shooting-Star der "Fête du livre"

Toulon empfindet sich von heute an drei Tage lang als Nabel der literarischen Welt Frankreichs. Die „heiligen“ Hallen des Chapiteau Place d’Armes durchhaucht während der traditionsreichen „Féte du livre du Var“ ein in den letzten Jahren kaum noch wahrnehmbarer Optimismus, scheint sich das gedruckte Buch doch langsam aus dem Würgegriff der elektronischen Konkurrenz lösen zu können, wie an den Verlagsständen angedeutet wird.

350 Autoren stellen sich bei der Buchmesse einem Vis-a-vis mit Leseratten aus nah und fern, von denen azurblau.fr zwei für seine Follower herausgepickt hat, zwei, die sich in Deutschland über renommierte Verlage bereits einen Namen machen konnten: Jean-Baptiste Andrea, frisch aus dem Ei gepellter Prix Goncourt, und den einst jungen Wilden Frédéric Beigbeder (Prix Renaudot 2009), nach Michel Houellebecq und Virginie Despentes dritter dunkler Stern einer skandalumwitterten neuen Autorengeneration, die die Klassik des Untergrunds wiederbelebte.

Jean-Baptiste Andrea
Jean-Baptiste Andrea (links). Foto: Georges Biard, Avp La Confrérie des larmes 6, CC BY-SA 3.0

Jean-Baptiste Andrea (52), der im Var und in Cannes aufwuchs bzw. lebt und erst vor zehn Tagen mit dem französischen „Literatur-Nobelpreis“ geadelt wurde, ist auch in Deutschland kein unbeschriebenes Blatt mehr. Über Nacht ist er nun zum unangefochtenen Kometen der „Fête du livre“ aufgestiegen, nachdem sich ihn die Veranstalter geistesgegenwärtig als sicheren Publikumsmagneten an Land gezogen und kurzentschlossen in den Präsidentenstand erhoben hatten. Eine derartige Premiere mit einem Lauréat-Novizen war Toulon zuletzt 2006 mit Leila Slimani gelungen (wir berichteten damals in der Riviera Côte d’Azur Zeitung).

Andreas Bücher (meist auch auf Deutsch erschienen) waren bisher zwar nicht eben erfolglos, aber keine Bestseller. Doch jetzt deutet sich mit seinem jüngsten Roman („Veiller sur elle“/Etwa: „Pass auf sie auf“) der große Durchbruch an. Immerhin hat sich das noch druckfrische Buch schon vor der Auszeichnung 50.000-mal verkauft. Wie der Shootingstar erläuterte, sieht er selbst in dem Roman eine Hommage an das Land seiner Väter, Italien. Italien sei das erste fremde Land, das er betreten habe, als er schon ein Teenager gewesen sei. Bis dahin sei er von der Heimat seiner Vorfahren praktisch abgeschnitten gewesen, weil die italienischen Einwanderer damals alles getan hätten, um ihre Herkunft zu verleugnen.

Zwar habe er Dokumente über seine Urgroßeltern und Großeltern, sagte Andrea. „Aber ich weiß zum Beispiel bis heute nicht, unter welchen Umständen meine Ahnen nach Frankreich einwanderten und was davor war. Es wurde einfach nie darüber gesprochen.“ Ein Teil seiner Herkunft habe insofern nie existiert, „ein Bruch, der mich immer frustrierte“. Und so sei ihm die Idee für den Roman gekommen.

Sein prämiertes Buch ist in den Zwischenkriegsjahren angesiedelt. Erzählt wird vor dem Hintergrund des Faschismus und Mussolinis Aufstieg zur Macht die Liebesgeschichte des armen und unterprivilegierten Bildhauers Mimo und Viola, die einer vermögenden Genueser Aristokratenfamilie angehört. Viola ist eine junge Frau, die sich in einer Zeit und in einem Umfeld zu emanzipieren versucht, in der die Gleichberechtigung der Frau noch kein Thema war. „Sie ist meine Heldin, aber es wollte mir nicht gelingen, in ihre Rolle zu schlüpfen“, schilderte Andrea. „Deshalb versetzte ich mich ganz in Mimo, einen ungeschickten jungen Mann mit vielen Fehlern, der mir ähnelt und von Viola erzählt.“

Andreas beim unabhängigen Verlag L’Iconoclaste 2017 veröffentlichter Debütroman „Ma reine“ („Meine Königin“), erster Band einer Trilogie über die Kindheit, hatte ihm sogleich den Prix Femina des lycéens, den Prix du premier roman, den Prix Alain-Fournier und den Prix de la Fondation Jacqueline de Romilly eingebracht. Die Geschichte handelt von einem zwölfjährigen Jungen, der mit seinen Eltern auf einer provenzalischen Tankstelle lebt und sich auf die gefährliche Suche nach seiner Freundin begibt.

Auch der zweite Teil von 2019 „Cent millions d’années et un jour“ (deutscher Titel „Hundert Millionen Jahre und ein Tag“) kam gut an. Der Roman spielt im Sommer 1954 und stellt einen Pariser Paläontologen in den Blickpunkt, der sich in den französischen Seealpen auf die Suche nach einem Dinosaurierskelett macht.

Besser noch aufgenommen wird 2021 Andreas nächstes Oeuvre „Des diables et des saints“ („Von Teufeln und Heiligen“). Die Story dreht sich um einen mysteriösen alten Klavierspieler, der an wechselnden öffentlichen Plätzen Beethoven spielt, um auf diese Weise seine Jugendliebe wiederzufinden. In Frankreich wurde der Roman über 30.000-mal verkauft und mit dem Grand Prix RTL-Lire sowie dem Prix Ouest-France/Étonnants Voyageur ausgezeichnet.

Cannes’ Bürgermeister David Lisnard empfindet es nach eigenen Worten als „große Ehre“ für seine Stadt, dass ein Einheimischer als einer von 15 Mitbewerbern mit dem renommiertesten Literaturpreis der Nation ausgezeichnet worden sei. Bekanntlich habe Cannes traditionell eine starke Beziehung zur Literatur, erinnerte das Stadtoberhaupt unter Anspielung auf Mallarmé und Apollinaire, die sich hier schon früher hätten entfalten können. Nun hoffe er, dass auch Andreas „Meisterwerk an den Schulen von Cannes durchgenommen“ werde.

Pamphlet gegen die Welt der Werbung: "Zwischen Lenin und Verona Feldbusch"

Frédéric Beigbeder
Frédéric Beigbeder. Foto: Georges Biard, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons

Frédéric Beigbeder (58), Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, der mich von Typ und Gebärde her etwas an den extravaganten André Heller erinnert, entstammt dem noblen Milieu im feinen Neuilly-sur-Seine (Paris). Obwohl sein früher Roman „Mémoires d’un jeune homme derangé“ („Memoiren eines Sohnes aus schlechtem Hause“) von 2001 eher das Gegenteil suggeriert. Spätestens durch die Geschichte eines unverschämten Erfolgsmenschen wird der Bestsellerautor von einer etablierten Werbeagentur entdeckt, die ihn prompt als hoch bezahlten Texter engagiert.

Schon 1994 stiftet Beigbeder selbst einen Literaturpreis – den Prix de Flore für junge Autoren (benannt nach dem legendären Pariser „Café de Flore“ in Saint-Germain-des-Prés, zu dessen Preisträgern bald auch die erwähnten Houellebecq und Despentes gehören).

2001 erscheint „99 Francs“ (in Deutschland „Neununddreißigneunzig“) . Der Ich-Erzähler – Octave – ist „zufällig“ auch Top-Werbetexter, hat Knete ohne Ende und die Schnauze von der „Moral“ seiner Branche so voll, dass er kotzen müsste, gäbe es nicht Drogen, Frauen und den Zynismus. Schonungslos verflucht er seine Welt, in der einfach alles käuflich ist, er selbst eingeschlossen. Zitat des Verfassers: „Nur die Illusionen der Werbung wecken beim Konsumenten genügend Gier, um den real allein existierenden Kapitalismus über seine Wachstumsgrenzen hinaus expandieren zu lassen.“

Octave legt sich mit einem Lebensmittelriesen an, für den er eine Joghurt-Kampagne kreiert, und versucht zugleich, „den Blödsinn zu sabotieren“. Dabei verroht er zunehmend selbst in dem System, für das er arbeitet, und geht langsam zugrunde, weil ihn dieselbe Gier treibt, die er anfachen soll. Er ist Täter wie Opfer, weil er, genau wie seine Zielgruppe, als Konsument nur ein Konsumgut für Marktstrategen ist. Beigbeder: „So verwandelt der Kapitalismus Menschen in verderbliche Joghurts und dopt sie mit Spaß.“ Die perfekte Konsumentin sei „eine Mongoloide unter 50“, bemerkt er zynisch. Als Kreativer benötige man nun einmal keine Rechtfertigung für sein hohes Gehalt. „Du hast einen Beruf, in dem dein Gehalt zu deiner persönlichen Rechtfertigung genügt.“

Mit „99 Francs“ wird Beigbeder auch international bekannt und zugleich zu einem der Stichwortgeber der Konsumkritik. Nachdem sich das Buch (Zeitungen titelten, Beigbeder „erklärt, warum die Welt an der Milka-Kuh zugrunde geht“) über eine halbe Million Mal verkauft hat, ist Beigbeder 2007 mit der cineastischen Adaption seines Bestsellers (Regie: Jan Kounen) bei den Filmfestspielen in Cannes. In der Hauptrolle des Octave Jean Dujardin. Zuvor hatte er seinen Job als Marketingfachmann nach zehn Jahren an den Nagel gehängt. Denn seit langem schon findet er „unerträglich, dass die Werbung von der Gier lebt, nicht befriedigt zu werden, zum anderen, weil die Gier nach Leben die Angst vor dem Tod verstärkt“.

2009 erhält Beigbeder für sein Werk „Un roman français“ den angesehenen Prix Renaudot. Darin schildert er, wie er im Jahr zuvor von der Polizei wegen öffentlichen Drogenkonsums festgenommen wurde und welche Rolle seine Prominenz in dem sich anschließenden Verfahren spielt…

Neben den Indiskretionen, die der Romancier als Insider der Werbeindustrie mit seinem Buch begeht, besteht der Skandal auch in den Parallelen zwischen Werbung und Faschismus, die in „Neununddreißigneunzig“ gezogen werden. Die Steuerung von Menschenmassen durch Illusionen ist eine davon. Darum kommentiert Octave Marketing-Meetings mit Goebbels- und Hitler-Zitaten. Die andere Parallele ist das rücksichtslose Nebeneinander von Kaufrausch und Grausamkeit. Afrika ist das Traumziel für eine Incentive-Reise der Agentur, denn: „Auf dieser vom Virus zerfressenen, von absurden Kriegen und ständigem Völkermord zerrissenen Erde fassen die kleinen Angestellten wieder Vertrauen zum System, von dem sie leben.“

Afrika dient als Appetizer. „Weil die Armen sterben, haben die Reichen das Recht zu leben.“ Und mit bitterer Ironie gelingt es Beigbeder, seinen Helden als Karikatur zu präsentieren. Ergebnis von „99 Francs“ sei – wie es in einer Kritik so schön hieß – ein Roman, der sich etwa so liest, als hätten Lenin und Verona Feldbusch eine moderne Fassung“ von Sades „120 Tage von Sodom“ geschrieben. Und diese Kombination variiert Beigbeder sehr intelligent und durchaus auch unterhaltsam.

Übrigens...

2004 hat Frédéric Beigbeder den urkomischen Text für „Restez normal à Saint-Tropez“ („Normal bleiben in Saint-Tropez“) geliefert. Repro: Rolf Liffers

2004 hat Frédéric Beigbeder den urkomischen Text für „Restez normal à Saint-Tropez“ („Normal bleiben in Saint-Tropez“) geliefert, eine ziemlich böse und von Philippe Bertrand mit ätzenden Comics garnierte Satire über das „abnormale Leben“ des Jetsets in dem Schickimicki-Dorf. Hauptfigur ist „Junior Müller“, Dollar-Milliardär und Erbe eines internationalen Mafia-Imperiums, der sich in Saint-Tropez erholen will.

„Leider“ stellt sich der Ort im „Mittelpunkt der Welt“ nicht als ideal heraus, um den Driss zwischen Drogen, Callgirls, Killern, Geld und Ruhm hinter sich zu lassen. Vielmehr ist „die Hauptstadt des Stupors, der Lust und des mondänen Yachtings“ in politische und polizeiliche Intrigen verstrickt, die Entführungen in Sao Paulo mit Champagner im Voile Rouge vermischt. Frédéric Beigbeder, Autor des Bestsellers von 2002, “Windows of the world”, und Philippe Bertrand kehren bösartiger und ätzender als je zuvor zurück in einer urkomischen Satire auf den Jetset und den Nabel der Welt.

Der Ehrengast der „Fête du livre“, der hochdekorierte amerikanische Thriller-Autor Harlan Coben (61), musste sein Erscheinen in Toulon wegen Krankheit kurzfristig abblasen.

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