Der Mont Ventoux, Gigant der Provence, ist für den gebürtigen Metzinger Steffen Lipp Fotomotiv, Inspirationsquelle, “Fitnessstudio”. Die Geschichte seines Hausbergs hat vergangenen Sommer auch die ARD eingefangen – in einem sehenswerten Porträt beider Protagonisten. Heute beginnt die „Tour de France 2022“, die Gelegenheit, diese Geschichte erneut zu erzählen.
Von Aila Stöckmann
Blick auf blassrosa Dächer vom Kalvarienhügel des Ortes, dann ein Zoom auf die Dachterrasse von Steffen Lipp und seiner Frau. So beginnt Anfang Juli 2021 die Live-Schalte vom Ziel der 11. Etappe der Tour de France im deutschen TV. Während die Radrennfahrer sich im Sattel Richtung Tagesankunft quälen, berichten Reporter der ARD von der Strecke. Moderator Michael Antwerpes sitzt im Zuhause der Lipps am Fuß des Mont Ventoux.
So war der Ablauf der Berichterstattung seit Monaten geplant, und so reibungslos wie erhofft gingen die Einsätze aus dem Ziel-Ort über die Bühne. Der schwäbische Fotograf und Maler Steffen Lipp, der mit seiner Frau schon mehr als sein halbes Leben lang am diesjährigen Etappenziel Malaucène wohnt, zeigte dem Moderator seine beeindruckenden Mont-Ventoux-Bilder.
ARD-Team mit Dion Mieske, Moderator Michael Antwerpes und Stefan Krieger (hinten, v.l.) auf der Dachterrasse von Gaby und Steffen Lipp (vorn)
Fürs Protokoll: Gewonnen hat die Etappe von Sorgues bei Avignon nach Malaucène mit zweifacher Überwindung des gefürchteten Mont Ventoux der Belgier Wout van Aert.
Tatsächlich war die Übertragung von der gemütlichen Dachterrasse in Malaucène in diesem Sommer der krönende Abschluss eines viel größeren Projekts, wie Steffen Lipp verrät.
Ins Rollen kam alles bei Vorgesprächen für Lipps geplanten ARD-Live-Auftritt im Juli. Wie bei der Tour de France üblich, bereitet der Sender seine Berichterstattung aus den verschiedenen Ecken des Hexagons bereits Monate im Voraus akribisch vor.
Nach ihrem Vorab-Besuch in Malaucène stellte die Programm-Verantwortliche Gabi Bohr fest: Mit dem Mann müssen wir mehr machen! Als “Botschafter von dem Buckel”, wie Steffen Lipp sich augenzwinkernd selbst nennt, kennt er den Berg und seine Mythen wie kaum ein Zweiter – und kann, vor allem, darüber erzählen wie kein anderer.
30-minütiges TV-Porträt
So entstand das 30-minütige Porträt „Im Angesicht des Giganten“, in dem sich Mann und Montagne die Hauptrolle teilen.
Um den Mont Ventoux ranken sich Geschichten wie um antike Stätten oder Jahrhundert-Bauwerke. “Kreiert hat den Mythos die Tour de France”, sagt Lipp, “etwa so wie Brigitte Bardot Saint-Tropez groß machte.” Der drahtige Schwabe mit dem weißen Haar kennt die Anekdoten alle – und vor allem auch jeden Winkel des felsigen Ungetüms, das tagein, tagaus Hobby-Radsportler an ihre Grenzen führt.
1979 haben Gaby und Steffen Lipp ihr Paradies in Malaucène gefunden, in Sichtweite des Mont Ventoux. Seit exakt 30 Jahren liefert Lipp die Sehnsuchtsbilder von südfranzösischen Lavendelfeldern, pittoresken Dörfern, blauem Himmel und gelber Sonne für den “Provence”-Kalender im Weingarten-Verlag, der Monat für Monat Tausende in der alten Heimat vom Süden träumen lässt.
Ein Motiv taucht bei Steffen Lipp immer wieder auf – der Mont Ventoux. Fotos: © Steffen Lipp
Morgens um 5 auf den Berg
Und nicht ganz zufällig taucht ein Motiv in all den Jahren zuverlässig immer wieder auf: der kahlköpfige Berg, der sich 100 Kilometer nördlich von Marseille wie ein übergroßer Wal in der Landschaft platziert.
“Ich habe dem Ventoux als Erster überhaupt ein ganzes Buch gewidmet”, sagt Lipp. Ende der 1980er-Jahre war das. Und jetzt also ein Film.
Morgens um 5 Uhr beginnt Kameramann und Journalist Marc Drumm im Juni 2021 mit dem Wahl-Provenzalen den Aufstieg auf den Berg. Das Wetter: außergewöhnlich kühl und grau. Schon da drängt sich Petrarcas Ausspruch aus dem Jahr 1336 auf, den Lipp im Film zitiert: “Wo sich die Schatten niemals niederlassen, anderer Berge, dahin, empor – zieht mich der wilden Sehnsucht Schmerz und Lust.”
Schmerz und Lust
“Schmerz und Luscht”, schwäbelt Steffen Lipp, das verbinde auch er mit dem Mont Ventoux. Früh raus müsse man, um das beste Licht, die dramatischsten Wolkenformationen einzufangen. Und dann gehe es tüchtig hinauf, über fossilreiche Geröllfelder und an Kalkwänden entlang. “Da muss man sich selbst überwinden.”
Der Gipfel der Steinwüste liegt fast 2000 Meter über dem Meer – eine Herausforderung für jeden, so Lipp, ob Radfahrer oder Wanderer. Passend dazu reckt sich oben wie ein erhobener Zeigefinger der eckige Turm der Wetterstation in den Himmel.
“Wer nicht auf dem Mont Ventoux war, war nicht in der Provence, sagen einige.”
Mit Weisheiten wie diesen würzt der Fotograf seine Erzählungen. Wie oft er selbst oben war, hat er nicht gezählt. Oft genug jedenfalls, um den Berg bis ins kleinste Detail zu kennen, bei Sonne, Regen, Wind, nachts und mit Schnee.
Langweilig werde der Ventoux ihm nie, beteuert Steffen Lipp. Wie eine Liebeserklärung klingt es denn auch, wenn der Schwabe die besonders steile Nordseite “säuisch verhaut” nennt – was auf Hochdeutsch so viel heißt wie “grandios unwirtlich”.
…Steffen Lipp, der Künstler
Lange, bevor er zur Kamera griff, waren Pinsel und Palette Steffen Lipps Handwerkszeug. Heute widmet er sich begeistert der Digitalkunst. Kostprobe: