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Zum Wochenende ein Diktat

Echt jetzt? Franzosen lassen sich in ihrer Freizeit seitenlange Texte diktieren. Wer die wenigsten Fehler macht, gewinnt. Ein Selbstversuch in Grasse. Von Aila Stöckmann

Vorbereitung! Jeder Teilnehmer erhält einen vierseitigen DinA4-Bogen zum Schreiben und eine ähnlich lange Liste mit den "Spielregeln" fürs Diktat. (Fotos: AS)

Zwei Dinge vorneweg. Erstens: Ich habe nicht gewonnen. Zweitens: Meine Freunde halten mich seit besagtem Wochenende für verrückt. 

Was reitet einen, an einem Samstagnachmittag mit geschätzt 40 anderen in der Bibliothek von Grasse Platz zu nehmen und sich bei der “Grande dictée” einen Seiten langen Text diktieren zu lassen? 

Der eine mag eine Partie Golf oder Tennis vorziehen, aber der Wettkampfgedanke lässt sich prima auch auf Rechtschreibung ausdehnen. Zumal auf die französische. 

In Frankreich ist es entsprechend seit jeher gang und gäbe, sich darin zu messen, wer beim Diktat die wenigsten Fehler macht. Orthographie ist im Hexagon sowas wie Glückssache. Nur die echten Experten kriegen es hin, die nicht gesprochenen Endungen fehlerfrei aufzuschreiben. -e? -es? -s? -ent? Klingt alles gleich.

Ich jedenfalls liebe Wettstreite aller Art. Wörter überdies. Also muss ich mir das einfach geben.

"Wie war das? Nicht so schnell!"

An den Tischen rund um mich sitzen Männer und Frauen jeden Alters; mehr Frauen als Männer, Tendenz Richtung älteres Semester. Aber ein paar Jugendliche sind auch dabei, zur Abi-Vorbereitung vielleicht.

Jocelyne Bustamente, eine Abgeordnete der Stadt, erklärt erst ausführlich die Regeln, dann liest sie den Text einmal vor. Ich verstehe viel, die meisten Wörter, aber der Sinn im Ganzen entgeht mir. Zumindest muss ich am Ende nicht schmunzeln wie die anderen.

Dann wird’s ernst. Beim zweiten Satz der erste Zwischenruf: “Wie war das? Nicht so schnell!” Die Akustik im Saal ist bescheiden.

Jocelyne bleibt entspannt und wiederholt Textpassagen so oft, dass auch ich mir meistens einen Reim auf das Gehörte machen kann. Immer wieder fallen allerdings Worte, die ich noch nie gehört habe. Schreibweise entsprechend: geraten.

Finger verkrampfen, Schrift degradiert

Meine Finger krampfen, die Schrift degradiert. Wann habe ich zuletzt drei Din-A4-Seiten per Hand vollgekritzelt? 

Zum Abschluss hören wir den Text ein weiteres Mal im Schnelldurchlauf. Gelegenheit, Endungen zu überprüfen und hier und da mehr Sinn ins Geschriebene zu bringen. 

Knapp eine Stunde nach der ersten Silbe fallen die Kulis. Unsere nummerierten Papierbögen werden eingesammelt; eine Handvoll Korrekteure macht sich umgehend ans Werk. Die Sieger sollen noch am Abend geehrt werden.

Ich fühle mich wie nach einer Stunde Sport, um mich herum das gleiche Bild: gerötete Wangen bei der aufgeregten Nachbesprechung.

14,5 Fehler stehen bei mir am Ende zu Buche. Ein Platz unter ferner liefen. Zu meiner Ehrenrettung: Die anderen waren Muttersprachler. Und beim nächsten städtischen Diktat fordere ich Revanche… 

 

 

Wer das Diktat nachschreiben möchte, findet die Textpassage auf den Seiten 97-99 in Marguerite Yourcenars Werk “Souvenirs Pieux” von 1974 (von “En 1971, l’idée me vint d’aller voir dans un musée de Liége le diplôme du vétéran de Flémalle…” bis “Flémalle, jadis un des ‘délices du pays de Liége’, m’offrait ce jour-là un échantillon de nos erreurs d’apprentis sorciers.”

 

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