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Wie den “LiterAzur”-Getreuen versprochen, stellen wir heute Katja Eichingers Buch "Das große Blau" vor - eine lohnende, weil kritische, intelligente und zugleich unterhaltende Lektüre. Repros vom Bucheinband: Rolf Liffers

„Das große Blau“: Grüße aus der „Vorhölle“ in Cannes

„Ach du Schande! Schon wieder!“ war mein erster Gedanke, als mir vor ein paar Wochen das – gefühlt – tausendste Buch über die Cote d’Azur zur Besprechung auf den Tisch kam. Ich nahm es daher eher zähneknirschend zu Hand, zumal der Titel „Das große Blau“ nicht gerade viel Erhellendes versprach. Heute nehme ich meine vorauseilende Skepsis feierlich zurück. Denn der Münchner Filmmanagerin und Journalistin Katja Eichinger – seit 30 Jahren stets mit einem Bein in Cannes und deshalb dort weidlich assimilierte Witwe des 2011 verstorbenen Erfolgsregisseurs Bernd Eichinger – ist nämlich in ihrer Hassliebe zur Provence eine äußerst schwierige Gratwanderung gelungen.

Ihr noch druckfrisches Oeuvre aus dem Blumenbar-Verlag (Aufbau-Gruppe Berlin) beschönigt nichts von dem vielen, was hier im Argen liegt, und ist bei aller Kritik doch zugleich eine sehr persönliche Liebeserklärung. Trotz aller Entgleisungen, die sie der Region offen ins Gesicht sagt, bekennt sie frei nach F. Scott Fitzgerald („Zärtlich ist die Nacht“/“Der große Gatsby“), der hier unten lange lebte und arbeitete: „Die mediterrane Landschaft mit ihren Düften, ihrer Natur, ihrem Licht und dem tiefen irisierenden Blau des Meeres“ verzaubere sie immer wieder. Und daran könnten auch Verkehrschaos, Bau- und Umweltsünden nichts ändern.

Beim Namen nennen will sie die krassesten Patzer trotzdem. Picken wir nur einige heraus und zitieren ein paar Stellen, die gerade dem Liebhaber des Küstenabschnitts zwischen Hyères-les-Palmiers und Monaco eine innere Fruchtsuppe sein dürften.

Stichwort Turbokapitalismus. Ausgerechnet da, wo „der fast bettelarme Nietzsche“ in seinem Zarathustra die Entwicklung vom Normalo zum Gott ersetzenden Übermenschen beschworen habe, wähnten sich heute abgehobene Finanzgiganten mit ihren „Geldparaden“ bereits am Ziel ihrer Wünsche. Dem Grundsatz „Eigentum verpflichtet“ zeigten sie in ihrer vermeintlichen Allmacht den Menschen „am unteren Ende des sozialen Gefälles“ gnadenlos den Mittelfinger. Und das sei umso abgefeimter angesichts von Hunderten von Westafrika-Flüchtlingen, die täglich im grenznahen Ventimiglia in der Hoffnung ausharrten, „ins verheißene Land“ (Frankreich) einreisen zu dürfen. Dabei spricht die Schriftstellerin von Menschen, die ihre Heimatländer nicht etwa zum Schmarotzen Richtung Paradies Europa verlassen haben, sondern aus handfesten existenziellen und im Grunde leicht nachvollziehbaren Gründen: „Wegen kollabierender Ökosysteme, politischer Gefahrenlagen oder weil sie auf eine bessere ökonomische Zukunft hoffen“. Europa sei aber „keine Insel, die abgekapselt vom Weltgeschehen“ existiere. „Wir sind Teil globaler Realitäten“, doziert Eichinger. „Insbesondere die populistischen Parteien vergessen das gern“.

Zur Veranschaulichung der Dimensionen der an der Côte d’Azur allenhalben zur Schau gestellten „Reichtumspornographie“ jongliert die 53-jährige Autorin mit vielen niederschmetternden Zahlen. Die weltweite Flotte von Superyachten belaufe sich inzwischen auf etwa 5.500 Schiffe, weiß sie aus amerikanischen Veröffentlichungen. Dabei verbrauche ein 60 Meter langes Boot schon im Stillzustand und nur zum Betrieb der Strom-Generatoren 500 Liter Diesel pro Stunde. Wenn so ein Schiff dann erst unterwegs ist, könne es 8.330 Liter auf 100 Seemeilen (185 Kilometer) schlucken. „Doppelt bis dreifach so viel frisst eine Superyacht, die zum Mittagessen mal eben von Cannes nach Korsika ausläuft – natürlich in einem Tempo, das garantiert, um zum Sundowner wieder zu Hause zu sein.“

Und schon sind wir beim Thema Umwelt. „Welche Emissionen“ diese rücksichtslosen Neofeudalisten allein mit ihren Privatschiffen verursachten, „scheint kaum jemand zu interessieren“, wundert sich Eichinger. Und fügt bitter hinzu: „Und wir stellen uns dann auch noch davor und machen Selfies davon…“ und „…gehen anschließend wieder Joghurtbecher recyceln“.

Zu den krassesten Bausünden an der Côte d’Azur zählt Katja Eichinger das weltbekannte, aber „unerhört hässliche Filmfestspielgebäude“ von Cannes

Was den ausufernden Bauboom an der azurblauen Küste angeht, kommt sie mehrfach exemplarisch auf ein Gebäude zu sprechen, das sie besonders daneben findet: Das „unerhört hässliche“ Festspielgebäude von Cannes – das mit dem weltberühmten roten Teppich. Und damit sind wir beim Thema Film: Wer nun ist berufener, sich kritisch zu dem Festival zu äußern, als die erfahrene Film-PR-Agentin. Aus eigenem jahrelangem Erleben schildert sie mit nahezu ungebremstem Schaum Hintergründe, von denen Otto Normalverbraucher nichts mitkriegt. Beginnend bei Oetkers „Hôtel du Cap“ in Antibes, das früher nur Bargeld annahm und wo sie peinlicherweise auch Harvey Weinstein gegenüberstand. Das Geld, das bei dem Festival verdient werde, habe „weniger mit Kunst zu tun, dafür aber viel mit Kommerz“.

Dort versprächen bei Partys und viel Rosé Verleiher, Fernsehsender oder Streamingdienste eine gewisse Summe für eine bestimmte Produktion. Damit könne die Produktionsfirma dann zu einer Bank gehen und ein Darlehen aufnehmen. „Aber wie viel sich von diesen Versprechen, Handschlägen, Schulterklopfen und Wangenküssen bewahrheitet, stellt sich manchmal erst nach Monaten heraus, wenn die Verträge unterzeichnet werden sollen.“ Für viele Kinoveteranen, darunter ihr Mann Bernd, sei „Cannes einfach nur ein anderer Name für eine ganz spezielle Vorhölle“ gewesen, „die für Leute im Filmgeschäft geschaffen wurde“, geißelt sie die Verhältnisse. In Cannes erwarte einen Film überdies „die Schlangengrube schlecht gelaunter und verkaterter Journalisten, …die gerne mal einen Film ausbuhen und völlig zerreißen“. Am Ende könne es sein, „dass man nur noch die Asche seiner verbrannten Kinoträume in den Händen hält“, schreibt sie an anderer Stelle.

Was übrigens Katja Eichingers Buch sonst noch wohltuend von Touristenführern unterscheidet: Sie sülzt nicht herum. An mehreren viel besungenen Orten lässt sie kein gutes Haar, nennt Monte-Carlo einen „völlig absurden Ort“ und fragt sich, was es in Saint-Tropez eigentlich zu sehen geben soll. 

Rolf Liffers

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