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Dreh- und Angelpunkt in Wittstocks neuem Buch ist die Hilfsorganisation des Amerikaners Varian Fry, die rund 2000 deutsche und österreichische Flüchtlinge vor Hitler und seinen Konzentrationslagern rettete. Repro: Rolf Liffers

„Marseille 1940“ – Wittstock schreibt über „die große Flucht der Literatur“

Nach eigenen Angaben hat der Journalist und frühere Verlagslektor Uwe Wittstock über 150 Quellen zu Rate gezogen, um das Buch „Marseille 1940“ über „Die große Flucht der Literatur“ (Untertitel) schreiben zu können. Und das merkt man seinem Werk auch an. Viele seiner Recherchen liefern neue und detaillierte Aufschlüsse über ein bereits ausgeschöpft geglaubtes historisches Kapitel. Dabei beschränkt sich der Autor – wie bereits der Titel verrät – in seinen Schilderungen auf nur ein einziges Jahr, das er selbst als das nach der Machtergreifung durch die Nazis (1933) „dramatischste“ des Exils bezeichnet.

"LiterAzur" - Die neue Spalte

Lieber azurblau-Leser, heute wird’s nun endlich was mit der ersten der kürzlich angekündigten Buchbesprechungen von unserem Kritiker und Reporter Rolf Liffers, die künftig unregelmäßig unter dem Stichwort „LiterAzur“ erscheinen sollen.

Noch immer nicht alle Geheimnisse gelüftet

Um es vorwegzunehmen: Mich hat das Buch gefesselt und verblüfft zugleich, glaubte ich doch nach über 40 Jahren eigener Nachforschungen auf diesem Gebiet so gut wie alles über diesen im Süden Frankreichs spielenden Zeitabschnitt zu wissen. Nach der Lektüre muss ich bekennen, dass das ein Irrtum war. Und nach dieser Erfahrung werde ich das Gefühl nicht los, dass auch durch diese neue Chronik der verbrannten deutschen Dichter noch immer nicht alle Geheimnisse gelüftet sind.

Wittstock sieht das genauso: Die Geschichte der deutschen und österreichischen Exilanten, die damals ins noch unbesetzte Vichy-Frankreich flohen, ist auch nach seiner Meinung „so komplex, dass sie den Rahmen jeder überschaubaren Darstellung sprengt“. Wer davon erzählen wolle, komme rasch an seine Grenzen. „Daher muss man sich exemplarisch auf das Schicksal Einzelner beschränken, und dies birgt wiederum die Gefahr, das historische Bild zu verfälschen.“

„Marseille 1940“ (erschienen bei C.H. Beck) hält sich daher eng an das, was die Antipoden des Nationalsozialismus über ihre damaligen Erlebnisse berichtet haben. Wittstock: „Neben jeder Person, die ich erwähne, standen Hunderte und Tausende andere, die das gleiche Recht hätten, in Erinnerung gebracht zu werden.“ Mag sein, dass der Schriftsteller Horst Hensel, dessen Ruhrkampf-Trilogie „Salz und Eisen“ wir jüngst vorstellten, diese Aufgabe gemeistert hätte. Doch auch er hätte dazu mehr als drei Bände benötigt. Wittstock zustimmend: „Manche Schicksale, die ich geschildert habe, waren eng verflochten mit Schicksalen, die nicht erzählt werden konnten – und mit ihnen wäre das Buch ins Uferlose gewachsen.“

Verwaister Grenzposten
Um sich an den heute verwaisten Grenzposten vorbeizudrücken, mussten Heinrich Mann, Walter Benjamin und Franz Werfel in den Pyrenäen unwegsame Pfade entlang kraxeln, um nach Lissabon weiterzukommen. Foto: Rolf Liffers

Varian Fry im Zentrum des Geschehens

In den Mittelpunkt stellt Wittstock daher die zentrale Figur des damaligen Geschehens: Varian Fry, einen damals 28-jährigen Amerikaner. Der Journalist und Berlin-Korrespondent der Zeitschrift „The Living Age“, über dessen Wirken die Vorgänger-Medien von azurblau.fr mehrfach berichteten, gibt seinen Job auf und gefährdet den Fortbestand seiner Ehe, um in Marseille gegen teilweise erbitterten Widerstand eine Hilfsorganisation für Flüchtlinge zu gründen, wobei er sich weder zu Hause in Amerika, noch bei dem Hitler-Kollaborateur und damaligen französischen Staatschef Petain geschweige denn in den faschistischen Nachbarländern Deutschland, Spanien und Italien Freunde macht. Gleichwohl gelingt es seinem Rettungsnetz bis zu seiner eigenen zwangsweisen Ausweisung, etwa 2000 Flüchtlinge vor dem Zugriff der Nazis zu retten.

Vor seiner Flucht hatte sich Benjamin (2.v.l.) noch mit Bertolt Brecht (Bildmitte) und anderen Schriftstellerkollegen - hier am Strand in Le Lavandou (Var) - getroffen, um u.a. Fragen des Epischen Theaters zu besprechen. Foto/Repro: Exil-Privatarchiv Rolf Liffers

Fluchthilfe u.a. für die Manns

Der 69-jährige Wittstock beschreibt lebendig, als sei er selbst dabei gewesen, wie Fry und seine Mitstreiter Heinrich und Golo Mann auf abenteuerliche Weise und unter ständiger Lebensgefahr über die Pyrenäen nach Portugal lotsen lässt, wie sich auch Walter Benjamin zu Fuß über die Berge quält, nachdem er Hannah Arendt seinen letzten Essay ausgehändigt hat, sich aber in Port Bou dann entmutigt das Leben nimmt. Wie sich Alma Mahler mit ihrem kranken Mann Franz Werfel in die Freiheit kraxelt und auf abseitigen und steinigen Pfaden jederzeit befürchten muss, geschnappt und nach Auschwitz verbracht zu werden – in ihrem Gepäck Originalpartituren von Gustav Mahler und Anton Bruckner.

Hintergrund all dessen: Im Juni 1940 fällt die deutsche Wehrmacht in Paris ein, und damit wird den vielen Flüchtlingen, die im französischen Exil Zuflucht suchten, der Boden unter den Füßen weggerissen. Unter ihnen viele Intellektuelle wie Lion Feuchtwanger, der im Internierungslager Les Milles bei Aix-en-Provence gefangen gehalten wird, oder Walter Mehring und Anna Seghers, die mit ihren Kindern zu Fuß nach Süden flieht. Sie alle sitzen dann wochen- oder monatelang und unter Todesangst im Wartesaal des Grauens in Marseille fest, weil sie zur Ausreise mehrere Papiere brauchen, die ihnen keiner ausstellen will oder kann. Und das in teilweise spelunkenhaften Verstecken, hungernd und frierend und – immer die Gestapo und Petains Häscher im Nacken, die sich darin gefallen, insbesondere Juden aufzustöbern und an Deutschland auszuliefern.

Wittstocks 2021 ebenfalls bei Beck erschienenes Buch „Februar 33 – Der Winter der Literatur“ kann durchaus als erster Teil seiner Auseinandersetzung mit der Verfolgung deutscher Dichter durch das NS-Regime betrachtet werden. Darin beschrieb er, wie das blühende literarische Biotop der Weimarer Republik binnen weniger Wochen trocken gelegt wurde und sich das Netz um Thomas Mann, Bertolt Brecht, Else Lasker-Schüler und viele andere immer enger zog. Das Buch wurde ein Bestseller, und „Marseille 1940“ hat nicht minder das Zeug dazu.

 

Übrigens: Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Magali Laure Nieradka-Steiner (48) von der Universität Heidelberg, die mit ihren wissenschaftlich fundierten Büchern („Sanary-sur-Mer – Die Hauptstadt der deutschen Literatur“ / „Franz Hessel – Der Meister der leisen Töne“ u.a.m.) zu den Pionieren der südfranzösischen Exil-„Archäologie“ gehört, ist soeben erneut auf dem Buchmarkt gelandet – und zwar mit der französischen Fassung ihres Buches „Exil unter Palmen“ („Exil d’Azur“ – Verlag L’Harmattan)

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