Azurblau-Chefreporter Rolf Liffers saß in Duisburg im Publikum, als die französische Aktrice Isabelle Huppert bei der diesjährigen Ruhrtriennale als “Bérénice” auf die Bühne trat.
Nun, liebe azurblau-Getreue, wo waren wir zuletzt stehen geblieben? Stimmt – bei Isabelle Huppert. Sie, die wir zuletzt als Energiebündel bezeichneten, ist echt ein Phänomen. Nicht nur als gefeierter Film- und Theaterstar. Auch von der schier unbändigen Zähigkeit der 71-jährigen so fragilen Französin her. Ich wollte es zuerst nicht glauben. Aber es ist wahr: Während der Filmfestspiele in Venedig, wo sie in diesem Spätsommer als Jurypräsidentin fungierte, ist sie praktisch täglich nach Deutschland und zurück geflogen, um bei der Ruhrtriennale 2024 Abend für Abend mit einem über anderthalbstündigen Monolog und vor stets ausverkauftem Haus als Racines „Bérénice“ auf der Bühne der Kraftzentrale im Landschaftspark-Nord von Duisburg-Meiderich zu stehen.
An allen vier Auftritttagen brannte die Sonne auf das stillgelegte Industriegelände. Und damit bei den hohen Temperaturen kein Zuschauer umkippte, wurden allenthalben Leitungswasser und Pappfächer gereicht. Auf den Rängen ging es (deshalb?) nie hitzig zu. Ganz anders als zuvor in Paris, wo es bei der Aufführung von Romeo Castelluccis Inszenierung zu regelrechten Tumulten gekommen war. „Man versteht nichts von dem, was du sagst”, blaffte ein aufgebrachter Theatergast die Schauspielikone dort an. Das war im Rheinland jetzt ganz anders.
Auch im „Pott“ verstand das Publikum zwar kein Wort. Kein Wunder bei der Unmenge hochgeschraubter Alexandriner, die die Huppert komplett zu rezitieren hatte. Auch die prosaischen deutschen Übertitel neben den Vorhängen trugen kaum zum besseren Verständnis bei. Das tat der Dramatik des poetischen Theatertextes jedoch keinen Abbruch, der als bedeutendster der französischen Literaturgeschichte gilt.
Allein die unzähligen Stimmlagen, über die die Actrice verfügt, hielt die Leute in Atem, von ihrer Bühnenpräsenz ganz abgesehen (Zitat Huppert: „Die Person, die ich darstelle, bin natürlich ich. Wie bei einer Bluttransfusion verwandelt sich die Person in mich.“).
So entstand ein Großteil der Inkarnation einer verschmähten und daher tief verletzten jüdischen Königin aus einer Summe von Körperlichkeit und akustischen Signalen, herausgeschrienem Schmerz, erstickten Tränen, verstotterter Resignation, heulendem Gesang, Wispern, Klagen, Brüllen. Untermalt von einem abgründigen Sound- und Musikdesign.
Dabei blieb die Schauspielikone selbst, die alle gern aus nächster Nähe angeschaut hätten, bis zum Schlussvorhang im Diffusen. Denn das gesamte Geschehen trug sich nicht etwa auf offener Bühne zu. Vielmehr hatte der Regisseur das Liebesepos und mit ihm die Diva in einem riesigen, von einem Gaze-Vorhang verschleierten Guckkasten verhüllt. Augen und Ohren waren insofern zu äußerster Konzentration auf ein mysteriöses Geschehen gezwungen. Was da über zwei Stunden abgegangen war, erschloss sich den vielen Ahnungslosen erst nach Ende der Vorstellung – als sie endlich dazu kamen, den Zettel zu lesen, den sie erst kurz vor Aufführungsbeginn auf ihren Sitzen vorgefunden hatten. Darauf stand, dass Titus mit Bérénice siegreich aus dem Ersten Jüdischen Krieg nach Rom zurückgekehrt ist und ihr die Ehe versprochen hat. Aus Gründen der Staatsräson aber hatte er sein Wort nicht gehalten und die Verschmähte verstoßen. Ohne die erwähnte Handreichung hätte die Handlung niemand verstanden.
Nicht klar wurde aber auch nach Lektüre des Zettels, warum auf der Bühne ein Dutzend schweigender Statisten die Hosen runterließ und neben verrätselten Symbolen auch Alltagsgegenstände mitwirkten, darunter ein Basketball, eine Waschmaschine und ein moderner Heizkörper, an den sich „Bérénice“ zärtlich anschmiegt. Umso erstaunlicher, in welchem Maße das offensichtlich aufgeschlossenere Publikum als das Pariser der großen Tragödin am Ende ungeteilt huldigte.
Isabelle Huppert, die als beste Darstellerin schon zweimal die Goldene Palme von Cannes gewonnen hat, wo sie in diesem Mai ihren jüngsten Film „Die Gefangene von Bordeaux“ vorstellte, ist im vorigen Monat auch für ihr Lebenswerk mit dem Prix Lumière ausgezeichnet worden. „Die Gefangene von Bordeaux“ läuft seit Ende August in den Kinos.
Rolf Liffers